In dem Rechtsstreit zwischen der Deutsche Umwelthilfe e. V. und dem Freistaat Bayern wegen DieselFahrverboten in München hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Vollstreckungsverfahren ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Frage der Zulässigkeit der Anordnung von Zwangshaft gerichtet. Dort hat jetzt der Generalanwalt Saugmandsgaard Øe seine Schlussanträge vorgelegt. Nach seiner Ansicht ist es nicht möglich, gegenüber den zuständigen Amtsträgern, einschließlich des Ministerpräsidenten, Zwangshaft zu verhängen, um sie dazu anzuhalten, in München Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge vorzusehen. Das Grundrecht auf Freiheit dürfe nämlich nur auf der Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden, das eine solche Möglichkeit für Amtsträger klar vorsehe; dies sei in Deutschland offenbar nicht der Fall.

Der Freistaat Bayern weigert sich, eine Entscheidung eines deutschen Gerichts zu befolgen, mit der er verpflichtet wird, auf bestimmten Straßen in München, wo die in der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa[1] festgelegten Grenzwerte für Stickstoffdioxid seit etlichen Jahren teils erheblich überschritten wurden, Verkehrsverbote für Dieselfahrzeuge vorzusehen. Die betreffende Gerichtsentscheidung, die rechtskräftig ist, wurde von der Deutschen Umwelthilfe erstritten, einer zur Erhebung von Umweltverbandsklagen befugten deutschen Nichtregierungsorganisation. Der mit dem Rechtsstreit befasste Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, dass das einzige im deutschen Recht vorgesehene Zwangsmittel gegenüber der Verwaltung – die Verhängung von Zwangsgeldern – nicht ausreiche, um den Freistaat dazu anzuhalten, der betreffenden Gerichtsentscheidung nachzukommen. Die Entrichtung eines Zwangsgelds gehe nämlich für den Freistaat nicht mit einer Vermögenseinbuße einher, da der zu zahlende Betrag seiner Staatsoberkasse als Einnahme zufließe.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof möchte deshalb vom Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchen wissen, ob die den nationalen Gerichten durch das Unionsrecht auferlegte Pflicht, „alle erforderlichen Maßnahmen“ zu treffen[2], um die Einhaltung der Richtlinie über Luftqualität sicherzustellen, die Pflicht umfassen kann, eine freiheitsentziehende Maßnahme wie Zwangshaft zu verhängen. Nach der Richtlinie müssen die Mitgliedstaaten Luftqualitätspläne erstellen, wenn in bestimmten Gebieten oder Ballungsräumen die Schadstoffwerte in der Luft die in der Richtlinie vorgesehenen Grenzwerte überschreiten. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich Einzelne gegenüber öffentlichen Stellen auf diese klare Verpflichtung berufen[3]. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt aus, das deutsche Recht sehe grundsätzlich die Verhängung von Zwangshaft vor; bei Amtsträgern sei dies aber mangels einer klaren und präzisen gesetzlichen Grundlage nicht möglich.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nicht über den nationalen Rechtsstreit, sondern nur über die vorgelegte Rechtssache. Es ist und bleibt Sache des nationalen Gerichts, sodann über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In seinen jetzt vorgelegten Schlussanträgen weist Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe zunächst darauf hin, dass die Weigerung der Amtsträger des Freistaats Bayern, der fraglichen gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, sowohl für die Gesundheit und das Leben der Menschen als auch für die Rechtsstaatlichkeit, die zu den Werten gehöre, auf die sich die Union gründe, gravierende Folgen haben könne. Außerdem beeinträchtige eine solche Weigerung das durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Grundrecht des Bürgers auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf.
Der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts könnten jedoch in der Praxis Grenzen gesetzt sein, und das in der Charta vorgesehene Recht auf Freiheit stelle eine solche Grenze dar.
Das durch die Charta garantierte Grundrecht auf Freiheit dürfe nur auf der Grundlage einer klaren und vorhersehbaren gesetzlichen Regelung eingeschränkt werden, die es in Deutschland in Bezug auf Amtsträger offenbar nicht gebe.
Überdies bestehe eine zusätzliche und nicht unerhebliche Ungewissheit in Bezug darauf, welche Personen von der Zwangshaft betroffen sein könnten.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe nämlich mehrere Personen erwähnt, und zwar auf der Ebene des Freistaats den Ministerpräsidenten und den Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz und auf der Ebene des Regierungsbezirks Oberbayern den Regierungspräsidenten und den Regierungsvizepräsidenten. Er habe hinzugefügt, vorsorglich müssten auch Personen einbezogen werden, die im Freistaat und im Regierungsbezirk Oberbayern leitende Positionen bekleideten, weil die verantwortlichen Organe des Freistaats parlamentarische Immunität besäßen, aufgrund deren, falls sie nicht aufgehoben werde, die Verhängung von Zwangshaft leerliefe.
Somit könnten sich die wichtigsten Amtsträger auf der Ebene des Freistaats der Zwangshaft entziehen. Gegen hohe Beamte könnte hingegen eine solche Maßnahme verhängt werden. Bei ihnen müsste allerdings noch geprüft werden, ob ihnen zugemutet werden könne, die gerichtliche Entscheidung umzusetzen, obwohl sie der Auffassung ihres Dienstvorgesetzten zuwiderhandeln müssten.
Der Generalanwalt kommt zu dem Ergebnis, dass die Verhängung von Zwangshaft gegen Amtsträger des Freistaats – selbst wenn damit das angestrebte Ziel, nämlich die Einhaltung der Grenzwerte für die Emission von Stickstoffdioxid, erreicht werden könnte, was keineswegs sicher erscheine – das Grundrecht auf Freiheit verletzen würde, weil es kein entsprechendes Gesetz oder zumindest keine klare und vorhersehbare gesetzliche Regelung gebe. Ungeachtet des Problems der Wirksamkeit des Unionsrechts und insbesondere des mit der speziellen Situation verbundenen Eingriffs in das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf dürfe das nationale Gericht die grundlegenden Erfordernisse des Grundrechts auf Freiheit nicht außer Acht lassen.
Deshalb dürfe, so schwerwiegend das Verhalten von Amtsträgern, die sich weigerten, eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung zu befolgen, auch sein möge, die Verpflichtung des nationalen Gerichts, alles in seiner Zuständigkeit liegende zu tun, um einer Richtlinie, insbesondere im Umweltbereich, volle Wirksamkeit zu verschaffen, nicht unter Missachtung des Grundrechts auf Freiheit wahrgenommen werden. Diese Verpflichtung könne mithin nicht so verstanden werden, dass sie es dem Gericht gestatte – oder es gar dazu zwinge –, das Grundrecht auf Freiheit zu verletzen.
Der Generalanwalt hebt ferner hervor, dass es Sache des nationalen Gesetzgebers sei, darüber zu befinden, ob er es für wünschenswert halte, eine solche gesetzliche Regelung zu treffen. Außerdem gebe es auf europäischer Ebene ein Zwangsmittel, und zwar das Vertragsverletzungsverfahren, das zu finanziellen Sanktionen für den betreffenden Mitgliedstaat führen könne. Der Gerichtshof sei auch bereits mit einer Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Deutschland in Bezug auf die Luftverschmutzung, u. a. in der Stadt München, befasst[4].
Die Schlussanträge seines Generalanwalts sind für den Unionsgerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Unionsgerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Unionsgerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Gerichtshof der Europäischen Union – Schlussanträge des Generalanwalts vom 14. November 2019 – C -752/18
- ABl. 2008, L 152, S. 1[↩]
- vgl. EuGH, Urteile „Janecek“ vom 25.07.2008 – C-237/07; „ClientEarth“ vom 19.11.2014 – C-404/13; und „Craeynest u.a.“ vom 26.06.2019 – C-723/17[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Craeynest u.a.[↩]
- EuGH – C-635/18, Kommission/Deutschland, anhängig seit dem 11.10.2018[↩]
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- Auspuff: Andreas Lischka