Durch Mutagenese gewonnene Organismen sind genetisch veränderte Organismen (GVO) und unterliegen grundsätzlich den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen.

„Mutagenese“ bezeichnet dabei -im Gegensatz zur Transgenese- alle Verfahren, die es ermöglichen, das Erbgut lebender Arten ohne Einführung einer fremden DNS zu verändern („Genschere“). Dank der Mutagenese-Verfahren konnten Saatgutsorten mit Resistenzen gegen ausgewählte Herbizide entwickelt werden.
Von diesen Verpflichtungen der GVO-Richtlinie ausgenommen sind nur Organismen, die mit Mutagenese-Verfahren gewonnen werden, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen verwendet wurden und seit langem als sicher gelten. Allerdings steht es den EU-Mitgliedstaaten frei, auch diese Organismen unter Beachtung des Unionsrechts den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen.
Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union in einem vom französischen Staatsrat, dem Conseil d’Etat, initiierten Vorabentscheidungsverfahren:
Die Confédération paysanne ist ein französischer Landwirtschaftsverband, der die Interessen landwirtschaftlicher Betriebe vertritt. Zusammen mit acht anderen Verbänden erhob sie beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) Klage gegen die französische Regelung, mit der durch Mutagenese gewonnene Organismen von den in der „Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 2. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates“ (ABl. 2001, L 106, S. 5) (GVO-Richtlinie) vorgesehenen Verpflichtungen ausgenommen werden. Diese Richtlinie sieht insbesondere vor, dass GVO im Anschluss an eine Prüfung der mit ihnen verbundenen Gefahren für die menschliche Gesundheit und die Umwelt der Genehmigung bedürfen, und unterwirft sie Anforderungen hinsichtlich ihrer Rückverfolgbarkeit, Kennzeichnung und Überwachung.
Die Confédération paysanne und die übrigen Verbände machen geltend, dass sich die Mutagenese-Verfahren im Lauf der Zeit verändert hätten. Vor dem Erlass der GVO-Richtlinie seien nur konventionelle oder zufällige Mutagenese-Methoden in vivo an ganzen Pflanzen zum Einsatz gekommen. Durch den technischen Fortschritt seien danach Mutagenese-Verfahren aufgekommen, mit denen sich in vitro gezielte Mutationen erreichen ließen, um ein Erzeugnis zu gewinnen, das gegen bestimmte Herbizide resistent sei. Der Einsatz durch Mutagenese gewonnener herbizidresistenter Saatgutsorten berge – wie bei den durch Transgenese gewonnenen GVO – die Gefahr erheblicher schädlicher Auswirkungen auf die Umwelt sowie die Gesundheit von Mensch und Tier.
In diesem Kontext legte der Conseil d’État dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage zur Vorabentscheidung vor, ob durch Mutagenese gewonnene Organismen GVO sind und den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen unterliegen.
Im Wege eines solchen Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorlegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nur über die vorgelegte Rechtsfrage, nicht auch über den nationalen Rechtsstreit. Es ist und bleibt vielmehr Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit dem Urteil des Unionsgerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise auch andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
In seinem jetzt verkündeten Urteil stellt der Unionsgerichtshof zunächst fest, dass durch Mutagenese gewonnene Organismen GVO im Sinne der GVO-Richtlinie sind, da durch die Verfahren und Methoden der Mutagenese eine auf natürliche Weise nicht mögliche Veränderung am genetischen Material eines Organismus vorgenommen wird. Folglich fallen diese Organismen grundsätzlich in den Anwendungsbereich der GVO-Richtlinie und sind den dort vorgesehenen Verpflichtungen unterworfen.
Aus der GVO-Richtlinie ergibt sich jedoch auch, dass sie nicht für die mit bestimmten Mutagenese-Verfahren, nämlich solchen, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen verwendet wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Organismen gilt. Den Mitgliedstaaten steht es allerdings frei, derartige Organismen unter Beachtung des Unionsrechts (insbesondere der Regeln über den freien Warenverkehr) den in der GVO-Richtlinie vorgesehenen oder anderen Verpflichtungen zu unterwerfen. Denn der Umstand, dass diese Organismen vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen sind, bedeutet nicht, dass interessierte Personen sie nach Belieben absichtlich freisetzen oder in der Union als Produkte oder in Produkten in den Verkehr bringen dürfen. Den Mitgliedstaaten steht es somit frei, in diesem Bereich – unter Beachtung des Unionsrechts, insbesondere der Regeln über den freien Warenverkehr – Rechtsvorschriften zu erlassen.
Zu der Frage, ob die GVO-Richtlinie auch auf Organismen Anwendung finden soll, die mit Mutagenese-Verfahren gewonnen werden, die erst nach dem Erlass der Richtlinie entstanden sind, führt der Gerichtshof der Europäischen Union aus, dass sich die mit dem Einsatz dieser neuen Mutagenese-Verfahren verbundenen Risiken als vergleichbar mit den bei der Erzeugung und Verbreitung von GVO im Wege der Transgenese auftretenden Risiken erweisen könnten. Denn mit der unmittelbaren Veränderung des genetischen Materials eines Organismus durch Mutagenese lassen sich die gleichen Wirkungen erzielen wie mit der Einführung eines fremden Gens in diesen Organismus, und die neuen Verfahren ermöglichen die Erzeugung genetisch veränderter Sorten in einem ungleich größeren Tempo und Ausmaß als bei der Anwendung herkömmlicher Methoden der Mutagenese. In Anbetracht dieser gemeinsamen Gefahren würde durch den Ausschluss der mit den neuen Mutagenese-Verfahren gewonnenen Organismen aus dem Anwendungsbereich der GVO-Richtlinie deren Ziel beeinträchtigt, schädliche Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu verhindern. Ferner würde dieser Ausschluss dem Vorsorgeprinzip zuwiderlaufen, zu dessen Umsetzung die Richtlinie dient. Folglich gilt die GVO-Richtlinie auch für die mit Mutagenese-Verfahren, die nach dem Erlass der Richtlinie entstanden sind, gewonnenen Organismen.
Schließlich prüft der Unionsgerichtshof, ob genetisch veränderte Sorten, die durch Mutagenese gewonnen werden, eine in einer anderen Unionsrichtlinie, der Richtlinie 2002/53/EG des Rates vom 13. Juni 2002 über einen gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten (ABl. 2002, L 193, S. 1; in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003, ABl. 2003, L 268, S. 1, geänderten Fassung)) vorgesehene Voraussetzung erfüllen müssen, wonach eine genetisch veränderte Sorte nur dann zum „gemeinsamen Sortenkatalog für landwirtschaftliche Pflanzenarten, deren Saat- oder Pflanzgut … gewerbsmäßig in den Verkehr gebracht werden darf“, zugelassen werden darf, wenn alle entsprechenden Maßnahmen getroffen wurden, um nachteilige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu vermeiden. Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff „genetisch veränderte Sorte“ als Bezugnahme auf den in der GVO-Richtlinie verwendeten Begriff des genetisch veränderten Organismus zu verstehen ist, so dass die durch Mutagenese gewonnenen Sorten, die unter diese Richtlinie fallen, die genannte Voraussetzung erfüllen müssen. Die mit Mutagenese-Verfahren, die herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen verwendet wurden und seit langem als sicher gelten, gewonnenen Sorten sind hingegen von dieser Verpflichtung ausgenommen.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 25. Juli 2018 – C -528/16