(Faktische) Vogelschutzgebiete

Nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens für europäische Vogelschutzgebiete besteht eine widerlegliche Vermutung, dass im Standarddatenbogen, die für die Gebietsauswahl und -meldung wertbestimmenden Vogelarten vollständig und abschließend aufgezählt sind. Die nachträgliche Einstufung einer Vogelart als wertbestimmend für ein bestimmtes Vogelschutzgebiet erfordert nicht ein erneutes Meldeverfahren nach der Vogelschutzrichtlinie mit einer Ergänzung des Standarddatenbogens.

(Faktische) Vogelschutzgebiete

Die Vogelschutzrichtlinie bezweckt den Schutz, die Pflege und Wiederherstellung einer ausreichenden Vielfalt und einer ausreichenden Flächengröße (Lebensräume) für die Erhaltung aller im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wild lebenden Vogelarten (Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 VRL).

Für die in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Arten, wozu auch der Neuntöter (Lanius collurio) gehört, sind nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 VRL besondere Schutzmaßnahmen hinsichtlich ihrer Lebensräume anzuwenden, um ihr Überleben und ihre Vermehrung in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen. Nach Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL erklären die Mitgliedstaaten insbesondere die für die Erhaltung der im Anhang I aufgeführten Vogelarten “zahlen- und flächenmäßig geeignetsten“ Gebiete zu Schutzgebieten, wobei die Erfordernisse des Schutzes dieser Arten in dem geografischen Meeres- und Landgebiet, in dem die Richtlinie Anwendung findet, zu berücksichtigen sind. Gemäß Art. 4 Abs. 2 VRL haben die Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen für die nicht in Anhang I der Richtlinie aufgeführten, regelmäßig auftretenden Zugvogelarten hinsichtlich ihrer Vermehrungs, Mauser- und Überwinterungsgebiete sowie der Rastplätze in ihren Wanderungsgebieten zu treffen. Nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL treffen die Mitgliedstaaten geeignete Maßnahmen, um die Verschmutzung oder Beeinträchtigung der Lebensräume sowie die Belästigung der Vögel, sofern sich diese auf die Zielsetzungen dieses Artikels erheblich auswirken, in den genannten Schutzgebieten zu vermeiden.

Die Anforderungen an die Zulässigkeit eines Vorhabens, das sich auf ein dem Schutz der Vogelschutzrichtlinie unterfallendes Gebiet auswirken kann, hängen davon ab, ob das Schutzgebiet gemäß § 32 Abs. 2 BNatSchG zu geschützten Teilen von Natur und Landschaft im Sinne des § 20 Abs. 2 BNatSchG erklärt worden ist. Mit der Schutzgebietserklärung geht das Gebiet nach Art. 7 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.05.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Habitatrichtlinie – FFH-RL -[1] in das Schutzregime dieser Richtlinie über; ein mit den Erhaltungszielen des Gebiets unverträgliches Vorhaben kann dann im Wege der Ausnahmeprüfung nach § 34 Abs. 3 BNatSchG/Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL zugelassen werden[2]. Anderenfalls verbleibt es bei dem strengeren Schutzregime der Vogelschutzrichtlinie, der zufolge nur überragende Gemeinwohlbelange wie der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen oder der Schutz der öffentlichen Sicherheit die Verbote des Art. 4 Abs. 4 VRL überwinden können[3]. Die zuvor erforderliche Prüfung des Beeinträchtigungsverbots des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL und die Verträglichkeitsprüfung nach § 34 Abs. 2 BNatSchG/Art. 6 Abs. 3 FFH-RL erfolgen hingegen nach gleichgerichteten Maßstäben; es geht jeweils um den Ausschluss von – im Hinblick auf die jeweiligen Schutzziele – erheblichen Gebietsbeeinträchtigungen[4].

Soweit die Mitgliedstaaten ihrer Verpflichtung zur Ausweisung von Vogelschutzgebieten nicht nachkommen, erfahren solche Gebiete als sogenannte faktische Vogelschutzgebiete bis zu ihrer ordnungsgemäßen Unterschutzstellung den strengen Schutz des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL. Faktische Vogelschutzgebiete umfassen Lebensräume und Habitate, die für sich betrachtet in signifikanter Weise zur Arterhaltung in dem betreffenden Mitgliedstaat beitragen und damit zum Kreis der zahlen- und flächenmäßig geeignetsten Gebiete im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL gehören[5]. Diese Qualität hat das Oberverwaltungsgericht der hier in Rede stehenden Fläche, die zu dem vom Land Niedersachsen im Jahr 2007 der EU-Kommission gemeldeten Vogelschutzgebiet V68 “Sollingvorland“ gehört, zugesprochen. Es hat dabei zu Recht zugrunde gelegt, dass nach Abschluss des mitgliedstaatlichen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine – hier Platz greifende – Vermutung dafür spreche, dass eine gemeldete, aber nicht förmlich unter Schutz gestellte Fläche als faktisches Vogelschutzgebiet anzusehen sei.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts greift im Stadium eines abgeschlossenen mitgliedstaatlichen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine Vermutung des Inhalts, dass ein faktisches Vogelschutzgebiet außerhalb des gemeldeten Vogelschutzgebiets nicht existiert, die nur durch den Nachweis sachwidriger Erwägungen bei der Gebietsabgrenzung widerlegt werden kann[6]. Diese Vermutung wurzelt in dem den Mitgliedstaaten durch Art. 4 Abs. 1 Satz 4 VRL eröffneten fachlichen Beurteilungsspielraum in der Frage, welche Gebiete nach ornithologischen Kriterien für die Erhaltung der zu schützenden Vogelarten „zahlen- und flächenmäßig“ am geeignetsten sind. Die Ausübung dieses Beurteilungsspielraums ist lediglich auf ihre fachwissenschaftliche Vertretbarkeit hin überprüfbar. Diese Vertretbarkeitskontrolle umfasst auch die Netzbildung in den einzelnen Ländern. In dem Maße, in dem sich die Gebietsvorschläge eines Landes zu einem kohärenten Netz verdichten, verringert sich die richterliche Kontrolldichte. Mit dem Fortschreiten des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens steigen die prozessualen Darlegungsanforderungen für die Behauptung, es gebe ein faktisches Vogelschutzgebiet, das eine „Lücke im Netz“ schließen soll. Entsprechendes gilt auch für die zutreffende Gebietsabgrenzung. Die gerichtliche Anerkennung eines faktischen Vogelschutzgebiets kommt im Falle eines abgeschlossenen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens deshalb nur in Betracht, wenn der Nachweis geführt werden kann, dass die Nichteinbeziehung bestimmter Gebiete in ein gemeldetes Vogelschutzgebiet auf sachwidrigen Erwägungen beruht[7].

Diese Erwägungen rechtfertigen nach Abschluss des Auswahl- und Meldeverfahrens auch eine – umgekehrte – Vermutung des Inhalts, dass ein als Bestandteil des kohärenten Netzes gemeldetes, aber nicht förmlich unter Schutz gestelltes Gebiet ein faktisches Vogelschutzgebiet ist, die nur durch den Nachweis sachwidriger, fachwissenschaftlich nicht vertretbarer Erwägungen bei der Gebietsauswahl und -abgrenzung widerlegt werden kann.

ür welche Arten ein Gebiet ausgewiesen wurde, ergibt sich aus dem Standarddatenbogen, falls nicht andere Dokumente, z. B. Regelungen über das Schutzgebiet, weitergehende Erhaltungsziele dokumentieren[8]. Der Standarddatenbogen ist der Kommission zu übermitteln. Er beruht auf dem Durchführungsbeschluss Nr.2011/484/EU der Kommission vom 11.07.2011 über den Datenbogen für die Übermittlung von Informationen zu Natura 2000-Gebieten[9] bzw. auf der zuvor geltenden Entscheidung Nr. 97/266/EG der Kommission vom 18.12.1996 über das Formular für die Übermittlung von Informationen zu den im Rahmen von Natura 2000 vorgeschlagenen Gebieten[10]. Der Mitgliedstaat ist nicht verpflichtet, alle im Standarddatenbogen aufgeführten Vogelarten in die Festlegung der Erhaltungsziele für das entsprechende Gebiet einzubeziehen. Es kommt darauf an, inwieweit den Auflistungen im Standarddatenbogen die Erklärung zu entnehmen ist, dass das Gebiet gerade aufgrund bestimmter Vogelarten ausgewählt wurde. Die Erhaltungsziele eines Vogelschutzgebietes müssen nicht notwendig alle im Gebiet vorkommenden Arten nach Anhang I der Vogelschutzrichtlinie umfassen, sondern nur solche, deren Schutz die Ausweisung des Gebietes letztlich gerechtfertigt hat. Dabei kann es sich mit Blick auf Art. 4 Abs. 1 VRL nur um die für das Gebiet charakteristischen Vogelarten handeln[11].

Diese Grundsätze gelten auch für ein zwar gemeldetes, aber nicht förmlich unter Schutz gestelltes – faktisches – Vogelschutzgebiet im Hinblick auf die Identifizierung der für die Auswahl und Meldung dieses Gebiets maßgeblichen – wertbestimmenden – Arten, hinsichtlich derer das strenge Schutzregime der Vogelschutzrichtlinie gilt. Insoweit spricht nach Abschluss des nationalen Gebietsauswahl- und -meldeverfahrens eine Vermutung dafür, dass der aus dem Standarddatenbogen sich ergebende Katalog der für das gemeldete Gebiet wertbestimmenden Arten vollständig und abschließend ist. Dies folgt, nicht anders als bei der Gebietsauswahl und -abgrenzung und der insoweit in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannten widerleglichen Vermutung des Inhalts, dass ein faktisches Vogelschutzgebiet außerhalb des gemeldeten Vogelschutzgebiets nicht existiert[6], aus dem fachlichen Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Frage, welche Gebiete nach ornithologischen Kriterien für die Erhaltung der zu schützenden Vogelarten „zahlen- und flächenmäßig“ am geeignetsten sind. Diese Frage muss stets im Hinblick auf ein mögliches Vorkommen einer oder mehrerer der in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie aufgeführten Arten oder regelmäßig auftretender Zugvogelarten beantwortet werden. Deshalb ist eine fachlich vertretbare Nichteinbeziehung einer bestimmten Art in den Kreis der für ein gemeldetes Gebiet wertbestimmenden Arten ebenso wenig zu beanstanden, wie es die Nichtmeldung eines Gebiets ist, wenn sie fachlich vertretbar ist[12]. In dem Maße, in dem sich die Gebietsvorschläge eines Landes zu einem kohärenten Netz verdichten, die richterliche Kontrolldichte hinsichtlich der Frage der Gebietsauswahl und -abgrenzung in der Folge verringert und die prozessualen Darlegungsanforderungen für die Behauptung eines nicht gemeldeten faktischen Vogelschutzgebiets steigen[13], führt das Voranschreiten des mitgliedstaatlichen Auswahl- und Meldeverfahrens auch zu einer Steigerung der Darlegungsanforderungen für die Geltendmachung einer Unvollständigkeit einer Gebietsmeldung im Hinblick auf die für das betreffende Gebiet wertbestimmenden Arten. Nach Abschluss des Auswahl- und Meldeverfahrens greift deshalb eine Vermutung des Inhalts, dass außer den in der Gebietsmeldung angegebenen keine weiteren wertbestimmenden Arten in dem Gebiet vorhanden sind, die nur durch den Nachweis widerlegt werden kann, dass die Meldung einer Art als wertbestimmende sachwidrig unterblieben ist.

Ebenso wenig wie der Umstand, dass ein Land die Auswahl seiner „Natura 2000“-Gebiete abgeschlossen hat, der rechtlichen Existenz faktischer Vogelschutzgebiete grundsätzlich nicht entgegensteht[14], begründet dieser Umstand ein unüberwindbares rechtliches Hindernis für die Annahme einer Unvollständigkeit der Gebietsmeldung hinsichtlich der zu schützenden Arten. Er führt vielmehr lediglich zu einer widerleglichen Vermutung des Nichtvorhandenseins faktischer jenseits der gemeldeten Vogelschutzgebiete sowie des Nichtvorhandenseins anderer als der gemeldeten wertbestimmenden Arten. Deshalb bedurfte es hier für eine Berücksichtigung des Neuntöters als wertbestimmende Art auch nicht zunächst noch der Durchführung eines weiteren Meldeverfahrens zur Ergänzung des Standarddatenbogens. Die Gebietsmeldung ist, wie bereits die Rechtsfigur des faktischen Vogelschutzgebiets verdeutlicht, keine Voraussetzung des sich aus einer unmittelbaren Anwendung der Vogelschutzrichtlinie ergebenden Artenschutzes.

Bei einem faktischen Vogelschutzgebiet ist die Abgrenzung zwischen erheblichen und unerheblichen Beeinträchtigungen gemäß Art. 4 Abs. 4 Satz 1 VRL nach den Zielsetzungen dieses Artikels, das Überleben und die Vermehrung der in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten in ihrem Verbreitungsgebiet sicherzustellen, vorzunehmen. Mangels konkretisierender Festlegungen gebietsspezifischer Erhaltungsziele ist ergänzend auf die allgemeinen Zielsetzungen in Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 der Vogelschutzrichtlinie zurückzugreifen, nach denen die Richtlinie dem Zweck dient, durch die Einrichtung von Schutzgebieten eine ausreichende Artenvielfalt und eine ausreichende Flächengröße ihrer Lebensräume zu erhalten und wiederherzustellen. Eine Prüfung anhand dieser Voraussetzungen muss die Gewissheit ergeben, dass keine erheblichen Beeinträchtigungen auftreten. Nur wenn keine vernünftigen Zweifel verbleiben, darf die Verträglichkeitsprüfung mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen werden[15].

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Dezember 2021 – 7 C 7.20

  1. ABl. L 206 S. 7[]
  2. BVerwG, Urteil vom 01.04.2004 – 4 C 2.03, BVerwGE 120, 276 <282 ff.>[]
  3. BVerwG, Urteil vom 01.04.2004 – 4 C 2.03, BVerwGE 120, 276 <289>[]
  4. vgl. BVerwG, Urteile vom 01.04.2004 – 4 C 2.03, BVerwGE 120, 276 <288 f.> und vom 11.08.2016 – 7 A 1.15, BVerwGE 156, 20 Rn. 66[]
  5. vgl. BVerwG, Urteile vom 22.01.2004 – 4 A 32.02, BVerwGE 120, 87 <101> und vom 27.03.2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229 Rn. 18[]
  6. vgl. BVerwG, Urteil vom 27.03.2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229 Rn. 25[][]
  7. vgl. BVerwG a.a.O. Rn. 23 f.[]
  8. vgl. EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 19.04.2007 – C-304/05 [ECLI:​EU:​C:​2007:​228], Rn. 33[]
  9. ABl. L 198 S. 39[]
  10. ABl.1997 L 107 S. 1[]
  11. vgl. BVerwG, Urteil vom 06.04.2017 – 4 A 16.16, NVwZ-RR 2017, 768 Rn. 29 m.w.N.[]
  12. vgl. zu Letzterem BVerwG, Urteile vom 14.11.2002 – 4 A 15.02, BVerwGE 117, 149 <155> und vom 27.03.2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229 Rn. 23[]
  13. vgl. BVerwG, Urteile vom 14.11.2002 – 4 A 15.02, BVerwGE 117, 149 <155 f.> und vom 27.03.2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229 Rn. 24[]
  14. vgl. BVerwG, Urteile vom 14.11.2002 – 4 A 15.02, BVerwGE 117, 149 <154> und vom 27.03.2014 – 4 CN 3.13, BVerwGE 149, 229 Rn. 22[]
  15. vgl. BVerwG, Urteil vom 11.08.2016 – 7 A 1.15, BVerwGE 156, 20 Rn. 67[]